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Titel
Cinephilie unter der Diktatur. Filmkultur in Spanien und der DDR in den 1950er und 1960er Jahren


Autor(en)
Ramos Arenas, Fernando
Erschienen
Stuttgart 2021: J.B. Metzler Verlag
Anzahl Seiten
XII, 479 S.
Preis
€ 69,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andy Räder, Institut für Medienforschung, Universität Rostock

Der französische Begriff der „Cinéphilie“ beschreibt die Begeisterung und Verehrung für die Filmkultur und das Kino. Sie entsteht durch die Rezeption und das Filmerleben von künstlerisch wertvollen und filmgeschichtlich bedeutsamen Werken sowie den Diskurs der Cinephilen beziehungsweise Cineasten über ihre Leidenschaft. „For cinephiles, the movies encapsulated everything. Cinema was both the book of art and the book of life”1 bekundete Susan Sontag in ihrem berühmten Aufsatz über den Verfall des Kinos. Den Ausgangspunkt nahm die Cinephilie bekanntlich im Frankreich der 1950er-Jahre, als junge Filmkritiker:innen die Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma gründeten und sich später in den 1960er-Jahren, inzwischen waren sie selbst zu Filmschaffenden geworden, intensiv mit dem künstlerisch anspruchsvollen Kino beschäftigten.2

Die von Fernando Ramos Arenas vorgelegte komparatistische und transnationale Studie beschäftigt sich genau mit dieser zeitlichen Periode, widmet sich jedoch zwei Beispielen von Cinephilie aus der „kulturellen und politischen Peripherie“ (S. 4), nämlich den Filmkulturen der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und von Spanien. Damit rekonstruiert und vergleicht Ramos Arenas erstmals die „Genese und Entwicklung einer jungen, aktiven, zum Teil alternativen Form der Filmkultur“ (S. 3) in zwei Diktaturen zwischen Mitte der 1950er- und Ende der 1960er-Jahre, statt sich den üblichen kanonischen Filmkulturen Europas, wie Frankreich, Großbritannien oder Italien zu widmen. Um die Besonderheiten beider Länder zu berücksichtigen, stellt der Autor die Arbeitshypothese auf, dass „innerhalb der [jeweiligen] nationalen Filmkultur ein spezialisiertes (cinephiles) Subfeld entstand“ (S. 4). Dieses Subfeld umfasste verschiedene Ebenen und strebte nach Autonomie. Ramos Arenas Studie stützt sich auf Bourdieus Forschungen zur Kunstsoziologie und dessen Überlegungen zum Wert kultureller Güter. Der Autor nutzt die kultursoziologischen Kategorien Feld, Autonomie und Kapital, um die komplexen Beziehungen und Mechanismen innerhalb der politisch kontrollierten Systeme in beiden Staaten zu erfassen und verbindet sie überzeugend mit aktuellen Ansätzen zur New Film History.

Methodisch folgt Ramos Arenas einem „(medien-)kulturhistorischen Ansatz“ (S. 13) und nutzt drei analytische Ebenen für seine Untersuchung: die Institutionen (Filmhochschulen, Filmclubs, Filmarchive), die Akteure (einzelne Cinephile) und Diskurse (beispielsweise in Filmzeitschriften). Um die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Filmkulturen einordnen zu können, werden drei strukturierende Achsen beleuchtet. Die erste Achse beschreibt den „sozialen, kulturellen und künstlerischen Statuswechsel des Films“ (S. 15). Auf der zweiten Achse wird der „nationale und internationale Bezugsrahmen und der transnationale Kern“ (S. 16) der Cinephilie thematisiert. Filmgeschichtliche Erinnerungen an die eigene Filmkultur bilden die letzte Achse ab. Eine weitere methodologische Überlegung, die Ramos Arenas innerhalb des cinephilen Subfeldes berücksichtigt, sind die Kriterien Autonomie und Relevanz sowie Vermittlung und Spezialisierung.

Die theoretische und methodische Fundierung ist einer der großen Stärken dieser beachtlichen Studie. Konsequent wendet Ramos Arenas die analytischen Ebenen und strukturierenden Achsen auf seinen Forschungsgegenstand an und überprüft regelmäßig die zentralen Kategorien, auf die sich seine Hypothesen stützen. Räumlich fokussiert sich die Arbeit auf die urbanen Städte Madrid und Barcelona sowie Berlin und Leipzig, was dem Forschungsgegenstand und der Quellenlage geschuldet ist. Der Untersuchungszeitraum beinhaltet drei Zäsuren: „Anfang (1955/56), Umbruch (1961/62) sowie Ende (1968/69)“ (S. 38), wobei die erste Periode „von einem filmvermittelnden Impuls geprägt“ war, während die zweite Phase durch einen „Prozess der Abgrenzung und internen Ausdifferenzierung“ (ebd.) gekennzeichnet war.

In den nun folgenden Hauptkapiteln, in denen die beiden Filmkulturen analysiert werden, spielen die genannten Zäsuren wieder eine wichtige Rolle. Kapitel drei beleuchtet die 1950er-Jahre bis zum Anfang der 1960er-Jahre. Im nächsten Kapitel steht die Epoche von 1961/62 bis Ende der 1960er-Jahre im Mittelpunkt. Ramos Arenas beschreibt zunächst die „Genese eines spezialisierten Publikums, das die künstlerische Qualität des Films sowie sein kritisches Potential ins Zentrum des Interesses stellte“ und legt dar, in welchem Maße der „Anspruch auf kulturelle Autonomie eines cinephilen Subfeldes“ (S. 180) von diesen Publika formuliert wurde. Während es in Spanien trotz vereinzelter Förderung und Duldung ein „offizielles Desinteresse an filmkulturelle Fragen“ (S. 181) gab, lancierte und durchdrang der DDR-Staat das filmkulturelle Feld vor allem ideologisch. Beide cinephilen Subfelder sahen sich, auch über den Rückblick auf die eigene filmkulturelle Tradition, als „Teil einer internationalen Bewegung“ (S. 183). In Kapitel vier arbeitet der Autor die Autonomieansprüche der Cinephilen in der DDR und Spanien heraus. Während sich der DDR-Staat immer mehr in filmkulturelle Fragen einmischte und die Akteure des cinephilen Subfeldes gegensteuerten, kam es in Spanien zu einer widersprüchlichen Entwicklung, die durch „Spezialisierung und zuweilen Radikalisierung ästhetischer und ideologischer Positionen“ (S. 308) gekennzeichnet war.

In den letzten beiden Hauptkapiteln wechselt der Autor die Analyseebene. Zuerst beschäftigt er sich mit zwei Filmclubs, dem Cine-Club Monterol in Barcelona und dem Leipziger Universitätsfilmclub. Dabei geht er der Frage „nach der Autonomie des aufstrebenden cinephilen Subfeldes“ dieser Einrichtungen sowie ihrer Protagonist:innen nach und beleuchtet deren „cinephiles Verständnis“ (S. 314). Danach werden die Debatten in beiden Ländern theoretisch-systemisch analysiert. Der Fokus liegt hier auf der Rezeption neorealistischer Werke in beiden Ländern. Ramos Arenas verfolgt das Ziel, die „Distanz zwischen den Filmen und den Diskursen, die die Rezeption von einigen dieser Werke, aber auch das Nichtvorhandensein von anderen Titeln thematisierten“ (S. 385) offenzulegen. Während die Bedeutung des Neorealismus in Spanien zumindest im Ansatz untersucht wurde, ist die Rezeption dieser Stilbewegung und deren Auswirkungen auf die DDR-Filmkultur kaum systematisch analysiert worden. Dieser Zustand ist angesichts der häufigen Mythisierung dieses Filmstils, vor allem im Rahmen der Herausbildung und Etablierung eines filmästhetischen und narrativen Selbstverständnisses der Filmschaffenden der Deutschen Film AG (DEFA) bedauerlich. Ramos Arenas Verdienst ist es, einige Aspekte dieses Mythos aufzudecken und zu dekonstruieren. So weist er im Rahmen seiner Studie zu Recht darauf hin, dass der Filmkultur beider Länder im Untersuchungszeitraum eine „räumliche und zeitliche Deplatzierung (décalage)“ (S. 445) innewohnte. Dies hatte zur Folge, dass Film aufgrund des Mangels an Rezeptionsmöglichkeiten öfter auf dem Papier als im Kino stattfand und der Blick auf fremde Filmkulturen immer auch der Selbstvergewisserung diente.

Ein wichtiger Punkt wird in dem Buch nur kurz thematisiert. Die Bedeutung und der Quellenwert der Zeitzeug:innen, welche die Geschehnisse selbst miterlebt und deren Interpretation auch entscheidend mitgeprägt haben. Der Feststellung des Autors, die Studie „profitiert entscheidend von ihnen und reflektiert sie zugleich kritisch als Quellen“ (S. 38) kann man durchaus zustimmen. Von einer ausführlicheren Methodenreflexion hätte die Arbeit dennoch profitiert.

Fernando Ramos Arenas hat mit seiner theoretisch-methodisch eindrucksvoll erarbeiteten Vergleichsuntersuchung über die Cinephilie in Spanien und der DDR eine kluge, detailreiche und richtungsweisende Studie vorgelegt, welche die Prozesse der Kanonisierung und das Verhältnis von filmkulturellem Zentrum und Peripherie neu denkt. Er hat damit ein Standardwerk für die komparatistische und transnationale Filmgeschichtsforschung geschaffen.

Anmerkungen:
1 Susan Sontag, The Decay of Cinema, in: New York Times, 25.02.1996.
2 Vgl. zur Geschichte der Cahiers du Cinéma: Daniel Fairfax, The Red Years of Cahiers du cinéma (1968–1973), 2 Bände, Amsterdam 2021.

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